Tanzgruppen im Kölner Karneval (Der Wilfried)

Don`t crack under pressure! Don`t control our dancing!
(Zerbrich nicht unter dem Druck und kontrolliert nicht unseren Tanz)

1-2-3-4-5-6-7-8, welcher Tänzer kennt nicht diesen Zählrhythmus, auf dem die Choreographen wie Schnitzler, Fahnenschreiber, Basti, Friedl, Sandra und viele mehr ihren neuen Tanz aufbauen bzw. aufgebaut haben.
Training, Training und nochmals Training heißt die Devise, bis es nicht 99-prozentig, sondern 100-prozentig klappt.

Zig Tanzgruppen in Köln und Umgebung liefern sich einen brutalen Existenzkampf, dass muss mal gesagt werden. Waren es in den 1990ern nur ein paar, befinden sich jetzt sehr viele (zu viele?) Tanzgruppen auf den Kölner Karnevalsbühnen. Fast jede Gesellschaft schmückt sich mit einer Tanzgruppe, wenn nicht zusätzlich noch eine Jugend- oder eine Kindertanzgruppe dazukommt. Für Auftrittsgagen bei den Topgruppen von ca. 900 Euro geht es runter bis auf ein paar hundert Euro und immer öfter „für umsonst“.
Tanzgruppen kosten Geld und das muss reingespielt werden. Wie macht man das bei 20-30 Auftritten oder ein bisschen mehr? Alleine ein Bus kostet mindestens 100 Euro die Stunde. Große Gesellschaften im Hintergrund und deren Sponsoren sichern dies oftmals ab. Ich habe mal zusammengerechnet, dass ein Tänzer die Session ca. 1.500 Euro Kosten hat, die er aus eigener Tasche bezahlt. Zusätzlich kommen die Urlaubstage, die jeder in der Session nimmt.
Wahnsinn!

Rheinveilchen, Höppies, Kammerkätzchen und die Luftflotte sind die Top 4 in Köln mit 100 und mehr Auftritten. Top durchtrainierte Aktive, die eine Akrobatik auf die Bühne bringen, dass einem teilweise das Herz stehenbleibt. Dies sind aber gewachsene Akrobatiktanzgruppen, bei denen seit Jahren die Tänzer untereinander ihre Erfahrungen an die nächste Generation weitergeben. Die körperlichen Belastungen bei einem Wurf für die Tänzerin und die Werfer sind schon super hoch. Bei Tanzgruppen, die dem nacheifern wollen, stehe ich oftmals sprungbereit an oder hinter der Bühne, um im Notfall direkt eingreifen zu können.

Die Anstrengungen der Tänzer sind teilweise extrem. Sie müssen unter höchsten körperlichen und psychischen Belastungen einen guten Auftritt hinlegen, sonst werden sie aussortiert oder bekommen weniger prominente Positionen im Tanz. Neun Monate Intensivtraining liegen hinter den Gruppen, bevor sie Anfang Januar auf die Bühnen gelassen werden. Mehrere Monate Blut, Schweiß und Tränen. Aber alle wollen tanzen. Im Vordergrund stehen die Freude, die Leistung und der Spaß. Gejammer gibt es nicht und bis auf schwere Verletzungen bekomme ich wieder alle muskulären Probleme hin. Im Karneval hab ich teilweise am Tag 8-10 Behandlungen und bis auf wenige, ganz wenige Ausnahmen geht’s am gleichen Abend dann mit den Auftritten weiter. Tapen, gerade rücken, Kineseotaping, Zerrungen ausmassieren und Verstauchungen fixieren sind die häufigsten Behandlungstherapien.

Die Jungs und Mädchen würden auch ohne mich weiter tanzen. Aber die Spätfolgen wären in puncto Gelenkverschleiß und innerer Narbenbildung dann doch schon extrem. Ab und zu rate ich auch massiv davon ab mit auf die Bühne zugehen. Dann schau ich schon mal in Tränenaugen und muss selber schlucken, obwohl ich sonst knüppelhart bin.
Bei einer eitrigen Angina z.B. können sich die kleinen Drecksviecher namens Streptokokken o.ä. in der Herzscheidewand festsetzen und dort später zu Vernarbungen und Fehlfunktionen an den Herzklappen führen. Auch spätere Rheumaerkrankungen (man munkelt ca. 70 %) sind eine Folge dieses Fehlverhaltens, nämlich keine Pause einzulegen.
Am meisten sind die Fußgelenke und Beine bei den Tänzern betroffen; zusätzlich die Hals- und die Lendenwirbelsäule. Bei den Hebern und Werfern finden sich darüber hinaus Verletzungen der Schulter- und Ellenbogengelenke. Verstärkt wird diese Verletzungsanfälligkeit durch Schlafverlust, Elektrolytverlust und Wasserentzug (Dehydration). Hinzu kommt noch Unterzuckerung, da viele Tänzer in der Hektik einfach zu wenig oder das Falsche essen. Diese Zusammenhänge erörtere ich oft mit den Tanzgruppenleitern, die fast alle (nicht alle!) meinen Ratschlägen zur Gesundheit sehr aufgeschlossen aufnehmen.

Diese Leiter wollen natürlich oftmals von mir etwas über den Zustand ihrer Tänzer erfahren. Hier mache ich keine Aussagen. Schweigepflicht ist die höchste Devise für mich, sonst hätten die Aktiven ja kein Vertrauen in meine Arbeit als Physio. Wie oft höre ich die Worte: „Aber nichts weitersagen bitte“.
Alle wollen tanzen. Alle wollen durch ihre Darbietung dem Publikum Freude bereiten. Alle sind Kämpfer und Kämpferinnen und man braucht nur in ihre Gesichter zu schauen, wenn das Publikum mitgeht oder sogar aufsteht. Apropos Publikum. Der Kölner weiß dies: Wenn eine Tanzgruppe ein- und ausmarschiert, ist Aufstehen angesagt. Leider hat sich in den letzten Jahren eine Unsitte bei manchen Ballermannsitzungen eingeschlichen, dass einige Gäste den Veranstaltungssaal bei Ankündigung einer Tanzgruppe verlassen.

Ein offenes Wort hierzu? Ich finde solch ein Verhalten zum Kotzen!
Tanzgruppen wie Traditionskorps sind reine Amateure, die in der Sitzungsgestaltung im Kölner Karneval ihre absolute Daseinsberechtigung haben. Hier wird kein Trallala auf der Bühne geboten, vielmehr ist es Tradition pur, ein echtes Highlight! Wer also den ursprünglichen, sich im Wandel der Zeit auch verändernden Karneval sehen will, der sollte im Saal bleiben und der Freude und Tanzlust der Aktiven mit Respekt und Aufmerksamkeit begegnen. Es kommt ja bestimmt danach wieder jemand auf die Bühne und fragt im Disco-Rhythmus: „Wo sind die Häääände??“
Das kann man auch auf Mallorca haben, aber die Tanzgruppen und Traditionskorps gibt es nur hier bei uns in Köln und Umgebung.
Ein paar Tanzgruppen scheren aus dem „höher, weiter, schneller“ aus. Das sind die Helligen Knäächte und Mägde, die Stattgarde Ahoi, die Schnäuzer Boore und Kölsch Hännes`chen, die sich ihren eigenen Stil erarbeitet haben.

Die Helligen sehr traditionsbewusst, die Stattgarde mit was ganz Neuem, die Schnäuzer Boore mit ihrem eigenwilligen wunderbarem Tanzstil und die Holzpüppchen von Kölsch Hännes´chen mit ihrer schauspielerischen Leistung auf der Bühne. Das soll aber die Leistung der anderen Tanzgruppen in keinster Art und Weise schmälern. Die Nennung der Tanzgruppen in meinem Blog soll keinerlei Wertungen meinerseits bedeuten. Es gibt hier in Köln über 30 dieser Gruppen und alle aufzuzählen wäre müßig. Es geht hier um alle und nicht um einzelne TG`s.
Ich finde sie alle toll, sofern Trainingsprogramm und Leistung auf der Bühne stimmen. Mir werden bei jedem Zuschauen immer noch die Hände schweißnass und mein Pulsschlag geht immer noch hoch. Das wird sich auch nicht ändern, solange ich an der Seite, im Saal oder backstage stehe.

Don`t control my dancing. (Kontrolliert nicht meinen Tanz)

Kölner Tanzgruppen haben freies Tanzen. Es gibt keine Regeln wie in den übrigen Karnevalsregionen, wo Figuren und Choreographien vorgeschrieben sind. Deshalb ist das ja auch so schön bunt und ungezwungen hier. Und das soll uns doch verdammt noch mal erhalten bleiben, genauso wie der Aufzug der Traditionskorps mit ihren Tanzmariechen und Tanzoffizieren.

Jeder Kölner liebt seine Stadt und ihre Tradition und es wäre eine Schande diese Sparte auf Kosten von Halligallisitzungen den Bach runter gehen zu lassen. Gott sei Dank schwenken in letzter Zeit viele Programmgestalter wieder ein wenig in die traditionelle Richtung um.
Ob es richtig oder falsch ist, dass es so viele Tanzgruppen momentan in Köln gibt, wird die Zeit zeigen. Manche der Gruppen nagen wirklich am Existenzminimum, weil keine Auftritte für sie da sind. Literaten werden zugeballert mit Anfragen, ob man auf deren Sitzungen vielleicht auftreten könne. Ich kann nur für mich sagen, ich habe lieber eine geordnet tanzende Gruppe junger Menschen auf der Bühne, die Spaß und Freud´ auf höchstem Niveau verbreiten, als die gleiche Altersfraktion mit Alkopops auf der Straße rumhängen zu sehen.

Ich weiß, dass dies ein sehr emotionaler Blog ist. Aber manchmal muss es raus, was man denkt und fühlt. Und die Tanzgruppen und Traditionskorps liegen mir halt sehr am Herzen.
Der Wilfried