Stunksitzung 2020: „Ävver nit mit uns!“(Alex)

Mit sechs Jahren ging ich als Cowboy zum ersten Mal auf die Stunksitzung für Kinder. Heute gehe ich wieder hin. Knapp 18 Jahre später – natürlich auf die Stunksitzung für Erwachsene. Einiges hat sich verändert in der Zwischenzeit. Ich gehe jetzt als Seemann, und überhaupt. Aber was hat sich auf der Sitzung getan, die mich an den Kölner Karneval herangeführt hat? 

Die Präsidentin des Elferrats, Birgit Wanninger, eröffnete die Stunksitzung mit den Worten: „Ävver nit mit uns!“ –  so habe ich auch den ganzen Abend erlebt!

Ich war zu Gast auf einer Karnevalssitzung, die sich nichts gefallen lässt und kein Blatt vor den Mund nimmt. Eigentlich das, was im Karneval zum guten Ton gehören sollte. Nun ist es im Moment sehr leicht, als Kabarettist oder Kabarettistin auf die Bühne zu gehen und einen Abend mit profanen Witzen über Politiker wie Donald Trump oder Boris Johnson zu füllen. Das macht dem Publikum dann auch Spaß, aber die meisten Gäste werden schon beim Verlassen des Saals das Programm vergessen haben.  „Ävver nit mit uns!“ Die Stunksitzung spielt da nicht mit. Das Stunksitzung-Ensemble und vor allem Biggi Wanninger haben es geschafft, das Publikum an die Hand zu nehmen und durch einen Abend zu führen, der mir nicht einfach nur Spaß gemacht hat, sondern vielmehr auch zum Nachdenken anregen konnte.

 

An diesem Abend gab es sehr besondere Auftritte von Künstlern. Hier aber über jeden Act auf der Bühne zu schreiben, um jedem gerecht zu werden, würde meinen Beitrag überfordern. Darum möchte ich ein Paar Momente hervorheben, die mich auf besondere Weise berührt haben und mir besonders in Erinnerung geblieben sind. 

Die sind schlechter zu verstehen als ich …

Es kommt eine zierliche Frau auf die Bühne, Doris Dietzold. Sie hatte vor einiger Zeit eine Gehirnblutung und lag sogar im Koma. Jetzt steht sie auf der Bühne im E-Werk an einem Pult, auf dem lediglich ein Glas Kölsch steht, vor Hunderten von Jecken.

In ihrem Programm spricht sie über die Schwierigkeiten in der Verständigung und über die Ängste, die ihre Situation mit sich bringt. Vor allem die Angst nicht verstanden zu werden, weil sie nicht mehr richtig sprechen kann. Dennoch hält sie das Publikum in Atem. Sie erzählt sehr persönliche Geschichten, über ihre Hirnblutung, ihre Familie und auch über die Verständigung zwischen Ost und West. In ihren Geschichten liegen Tragik und Komik meist sehr nahe beieinander. Zum Beispiel, wenn sie sagt, dass die „Ossis“ noch schlechter zu verstehen sind als sie. Doris Dietzold vermittelt mir das Gefühl, dass wir aus allem, was sich uns in den Weg stellt, auch etwas Schönes machen können. 

Miesepetersitzung – eine Schelle an die Tradition 

Natürlich haben nicht nur die Politik, die Jugend, der FC und große Konzerne wie Tesla ihr Fett weg bekommen. Nein auch der Kölner Karneval wurde gehörig auf die Schippe genommen, und das nicht zu Unrecht. Warum sind bis heute noch kaum Frauen in Karnevalsvereinen? Warum wird die Jungfrau im Dreigestirn immer noch nur von Männern verkörpert? Warum sind traditionelle Karnevalssitzungen immer noch entweder steif, langweilig und oberflächlich oder verkommen immer mehr zur bloßen Party? Wie ist das tatsächlich mit dem „Brauchtum“? Die Künstler der Stunksitzung stellen diese Fragen dezidiert in ihrem Programm. 

Auch für mich müssen diese Fragen heutzutage gestellt werden, und nicht zuletzt im Kölner Karneval. Und natürlich sollte der Karneval seinen Teil dazu beitragen, dass wir diese Herausforderungen bestehen können. 

„Der Server ist down…“

Auch Digital Detox ist ein Thema an diesem Abend, ein Thema, das ebenfalls in meinem Leben Einzug hält. Eigentlich möchte ich gar nicht wissen, wieviele Stunden ich am Tag auf irgendwelchen Social-Media Plattformen verbringe und damit meine Zeit vertüdele. Das machen wir wahrscheinlich inzwischen fast alle. Wir wollen Follower, Likes und möglichst viele DM´s. Aber macht uns das wirklich glücklich? 

Das Ensemble der Stunksitzung hat darauf eine Klare Antwort: Nein! – Wir rennen den Reizen im Internet hinterher, als wären es die Heilsbringer schlecht hin. Viele Follower, viele Likes und möglichst viele Benachrichtigungen. Vernachlässigen wir dabei nicht vielleicht unser soziales Miteinander? Verbringen wir mehr Zeit mit unseren Instagram-Followern als mit unseren Freunden, die sogar wirkliches Interesse an uns haben? Kann uns das sogar krank machen? Wahrscheinlich muss diese Fragen jeder für sich beantworten. Mir würde es aber mal gut tun, wenn meine Server down wären.

Cancan oder eher Can-nicht 

Köbes Underground, die Hausband, ist eine ganz eigene Nummer. Die zehnköpfige Band begleitete den Abend musikalisch, unterstützte das Bühnenprogramm und bringt auch ganz eigene Beiträge. Wahrscheinlich hätte die Gruppe den Abend auch alleine füllen können. Mein Highlight war, als die Band in bester Jacques Offenbach-Manier einen Cancan zum Besten gab. Dem Publikum hat’s auch gefallen, es stand nicht auf, es wurde von den Bierbänken gerissen. Überall konnte ich hören, dass Jecken versuchten, dem sehr schnellen Takt zu folgen und den an die Wand projizierten Text mitzusingen. Es hat ein bisschen gedauert, bis die Leute gemerkt haben, dass das einfach unmöglich war. Mit einem Frontmann (Ecki Pieper), der sich wirklich nicht verstecken muss, hat die Band es geschafft, das Publikum immer wieder einzufangen, für sich zu gewinnen und am Ende sogar auf den Tischen tanzen zu lassen. 

Nach vier Stunden, in denen ich so viel gelacht habe wie selten zuvor, fand ich mich am Ende eines wunderbaren Abends wieder, inmitten hunderter Karnevalisten, die sich von Köbes Underground die richtigen Tanzschritte zu ihrem letzten Song beibringen ließen. Ein toller Abschluss des Abends.

Ich musste dabei daran denken, was Köln und den Karneval für mich so besonders machen: Es gibt vieles in der Welt, worüber wir schimpfen und worüber wir uns lustig machen können, ebenso gibt es vieles, was wir verändern müssen, aber letztlich stehen wir zusammen, als Kölner, als Jecken und als Freunde.

Fotos: A. & W. Bartscher / bartscher.net, BKB Verlag