„M’r levve nor einmol“ – Aber wie, Mike Kremer? (Daria)

Es ist Samstagnachmittag, 16:30 Uhr. Normalerweise hätte Mike Kremer jetzt, mitten im Februar, sicher schon seinen fünften oder sechsten Karnevalsauftritt hinter sich. Corona nimmt dem Sänger der Band Miljö diesen wichtigen Teil seines Lebens. Stattdessen sitzt der 35-Jährige in seinem heimischen Musikstudio und erklärt mir trotzdem recht zufrieden und entspannt via Videotelefonie, wieso ich jeden Herzschlag meines Lebens ausnutzen sollte. 

Gegen den Corona-Blues: Inspiration fürs Leben von unseren liebsten Karnevalsmusikern

Ich habe in den letzten Wochen viel Zeit damit verschwendet, traurig darüber zu sein, was alles nicht möglich ist. Mir zu wünschen, wir könnten jetzt in Kneipen zusammenstehen, Karneval feiern, singen, tanzen, lachen und verrückte Dinge erleben. Dabei habe ich wehmütig meiner Karnevals-Playlist gelauscht und irgendwann diese Zeilen gehört:

„Ich well nit waade, bes ‘ne Stein op m’r litt. Ich well alles, wat et Lävve uns jitt. Denn et klopp nor drei Milliarde Mol. Bes et Hätz nit mih schläht…“

Es sind Zeilen aus dem Song „Drei Milliarde“ von Miljö. Sie zu hören, hat mich nachdenklich gemacht. Wieso weine ich der Vergangenheit nach und verliere mich im Ärger über Corona? Ich lebe jetzt und sollte nicht trübsinnig auf bessere Zeiten warten. 

Plötzlich hatte ich das riesige Bedürfnis, mich von meinen liebsten Karnevalsmusikern inspirieren zu lassen. Denn wer solche Songtexte schreibt, der hat doch sicher noch mehr bereichernde Gedanken zu dem Thema, oder? 

Unser Herz schlägt drei Milliarden Mal, dann ist unsere Zeit abgelaufen

Mikes Stimme klingt blechern aus meinem Computer. Das Bild hakt immer mal wieder, aber ich verstehe ihn deutlich, als er mir erzählt, dass ein Zeitungsartikel ihn auf die Idee gebracht hat, den Song „Drei Milliarde“ zu schreiben. In diesem Artikel hieß es, dass das Herz eines Menschen in einem durchschnittlichen Leben rund drei Milliarden Mal schlägt. 

„Da war die Zeit, die wir auf der Erde verbringen, plötzlich in eine Zahl gepackt“, erinnert er sich. „Drei Milliarden Herzschläge haben wir Zeit, das zu tun, was uns glücklich macht. Wenn man sich das immer wieder in den Kopf ruft, dann merkt man: Ach ja, mein Herz schlägt, da sind schon wieder drei Schläge vergangen und man spürt – das Leben ist endlich. Man hat nicht ewig Zeit, die Dinge zu tun, die man machen will.“ 

Mutig sein, aufs Herz hören und Lebensträume wahr werden lassen

Mike musste schon vor einigen Jahren eine ziemlich gravierende Entscheidung darüber treffen, was ihn im Leben langfristig glücklich macht. Der Sänger ist studierter Informatiker, wollte sogar promovieren, als er parallel mit seinen Jungs Nils, Max, Simon und Sven die Band Miljö gründete. 

Überraschend schnell bekamen sie einen Plattenvertrag und Mike musste sich für einen Weg entscheiden. Sicherheit oder Erfüllung?

„Man verdient gutes Geld als Informatiker. Man findet unter Garantie immer irgendwo einen Job“, meint Mike. „Aber mein Herz hat gesagt, du musst die Musik machen. Das war das, was du im Leben schon immer machen wolltest. Und wenn du damit jetzt erst mal wenig verdienst oder phasenweise sogar gar nichts, ist es doch das, was sich für mich richtig angefühlt hat.“ 

Er schaut dankbar und irgendwie liebevoll in die Kamera, als er das sagt. So als würde ihn die Erinnerung an diese lebensbestimmende und mutige Entscheidung immer noch berühren und vielleicht auch mit ein bisschen Stolz erfüllen. 

Man darf nicht immer nur darauf hinarbeiten, IRGENDWANN eine gute Zeit zu haben

Und das, obwohl der Vater zweier Töchter in Zeiten wie diesen als Informatiker wahrscheinlich weniger Sorgen hätte. Für Mike und seine Band ist es wichtig, Konzerte spielen und im Karneval auf Hunderten Veranstaltungen auftreten zu können. Durch Corona fallen wesentliche Einnahmen weg. Sicher hätte er einige Gründe, den Virus zu verfluchen und den Kopf in den Sand zu stecken, bis irgendwann vielleicht wieder Normalität herrscht. 

Aber das ist nichts für Mike: „Ich glaube, viele gehen mit der Denkweise durchs Leben: Ich lebe so, dass ich irgendwann eine gute Zeit haben werde“, vermutet er. Zum Beispiel mit einem Nine-to-five-Job, den man nicht leiden kann und montags schon aufs Wochenende hin fiebert oder die Rente herbeisehnt. Aber da ist viel Zeit dazwischen. Und die sollte man nicht nur „überstehen“.

So sei es auch mit Corona, meint Mike. Wer weiß, wie lange wir mit dem Virus noch Probleme haben? Deswegen will er sich nicht darüber ärgern, dass er gerade nicht auf die Bühne kann, sondern fokussiert sich auf die anderen Dinge, die ihm als Künstler und auch als Vater Freude bereiten und die ihn weiterbringen: „Ich bin fast jeden Tag im Studio, schreibe Songs und nehme Demos auf. Außerdem kann ich viel mehr Zeit mit meinen Kindern verbringen.“

Denk nicht immer zwei Mal über alles nach

Es scheint, als wäre Mike ein Mensch, dem es leichtfällt, auf sein Herz zu hören und das Leben nicht zu schwer zu nehmen. Und doch sagt er über sich selbst, er sei ein Grübler. Deswegen hat er gemeinsam mit seinem Bandkollegen Nils noch einen zweiten Song unter dem Motto „M’r levve nor einmol“ geschrieben: In „Denk nit immer zweimol“ heißt es, man solle manchmal einfach gar nicht groß nachdenken, denn dafür sei das Leben viel zu kurz. 

„Mach doch einfach!“, Mike lächelt in die Kamera und zuckt mit den Schultern. „Wenn du zum Beispiel mitten in der Woche zufällig einen Freund in der Stadt triffst, es ist nicht gerade Corona und ihr überlegt, spontan feiern zu gehen, es fühlt sich in dem Moment richtig an und ihr habt jetzt beide Bock drauf, warum nicht? Dann hat man halt mal weniger Schlaf. Das kann man auf viele Situationen übertragen“, meint er. 

In jeder Sekunde des Lebens hat man die Wahl, was man tut

Als er das sagt, fallen mir selbst ein paar Momente ein, in denen ich zu viel nachgedacht habe und wodurch mir Chancen auf unvergessliche Momente entgangen sind. Trotzdem werfe ich ein, dass mir Schlaf extrem wichtig ist und dass mein nächster Tag im Eimer ist, wenn ich müde bin. Aber auch dafür hat Mike einen Rat parat: „Man muss in jeder Situation gucken: Ist das jetzt etwas, das mein Leben kurzfristig oder langfristig schöner macht, oder nicht? Und man hat ja eigentlich immer die Wahl. In jeder Sekunde des Lebens hat man die Wahl, was man tut.“

Es ist nicht immer leicht, nach dem „M’r levve nor einmol“-Motto zu leben

Natürlich gibt es Zeiten, in denen es schwierig oder nahezu unmöglich ist, sich all das zu Herzen zu nehmen. Dann sind Angst und Unsicherheit größer als die Sehnsucht nach dem Traum. Es kommt einem ziemlich unvernünftig vor, nicht nachzudenken und einfach zu machen und die Probleme sind manchmal so groß, dass man kaum Kraft hat, irgendetwas Positives zu sehen. Dann scheint es vielleicht so, als hätte man keine Wahl, sondern nur Verpflichtungen. 

Doch ich persönlich gebe viel zu oft dem Schicksal und äußeren Umständen die Schuld daran, dass mein Leben gerade nicht so läuft, wie ich es mir wünsche. Mein Herzschlag wird mich jedenfalls jetzt öfter daran erinnern, dass ich nicht ewig Zeit habe, die Dinge zu tun, die mir wichtig sind. 

 

Bildnachweis:  Foto Studio ©Ben Randerath, alle anderen Fotos©Daria Bücheler