„M’r levve nor einmol“ – Aber wie, Basti Campmann? (Daria)

„Gibt es eine Zeile aus eurem Song ‚Kumm mer läave‘, die dir besonders am Herzen liegt?“ 

Es ist Viertel vor fünf – ein Montagnachmittag Anfang Februar, als ich Bastian Campmann, dem Sänger der Band Kasalla, diese Frage via Videotelefonie stelle. Noch bevor ich zu Ende gesprochen habe, beobachte ich, wie er zu überlegen beginnt. Er lächelt leicht, seine braunen Augen wandern nachdenklich nach oben. Dann nickt er.  

„Kumm mer sammele Stäänestunde, die uns keiner nemme kann“, antwortet der 43-Jährige. Ich grinse breit, als er das sagt, denn exakt diese Zeile berührt mich auch am meisten. Nur wegen ihr führe ich heute überhaupt dieses Interview mit Basti. Ich habe die Zeile in einem Moment gehört, als ich gerade ziemlich trübsinnig war – traurig darüber, was wegen Corona alles nicht möglich ist. Sie hat mich davon abgehalten, noch länger vergangenen Zeiten nachzuweinen oder die Zukunft herbeizusehnen und mich stattdessen nachdenklich gemacht. 

Lasst uns Sternstunden sammeln, die uns keiner nehmen kann

Ich habe mich gefragt: Wieso sollte ich warten, bis Corona vorbei ist, um meine Sternstunden zu sammeln? Ich lebe nur einmal! Und diese Zeit – so ungewöhnlich und schwierig sie auch ist – gehört auch zu meinem begrenzten Leben. Dann hatte ich plötzlich eine Idee, die mich endlich wieder richtig kribbelig gemacht hat: Wenn diese eine Textzeile schon so viel in mir ausgelöst hat, wie inspirierend wäre dann wohl ein Gespräch mit demjenigen, der sie mitgeschrieben und gesungen hat? 

Nachdem ich bereits mit Mike Kremer (Miljö), Juri Rother und Pierre Pihl (Planschemalöör) darüber gesprochen habe, wie sie jeden Herzschlag ihres Lebens ausnutzen, möchte ich im dritten Teil meiner „M’r levve nor einmol“-Reihe von Basti Campmann wissen, wie er in diesen Zeiten wertvolle Momente sammelt, die er nie wieder vergessen wird. 

„Kleine Sternstunden“, sagt Bastian nachdenklich. „Ich versuche, sie gerade jeden Tag zu sehen. Im Moment ist ja schon alles sehr gleichförmig. Aber Sternstunden können ja auch Kleinigkeiten sein. Für mich war das zum Beispiel zuletzt, als meine Tochter eine neue Zahl gelernt hat oder als ich ihr dabei zusehen konnte, wie sie ein Bild zu Ende gemalt hat, weil die Kita zu hat und meine Frau und ich jetzt die Kita sind. Das ist anstrengend, aber auch wunderschön.“

Corona führt einem vor Augen, dass man nicht ewig lebt

Diese Sternstunden kann ihm niemand mehr nehmen. Egal was passiert. Dass einem sehr unerwartet die Möglichkeit genommen werden kann, weitere wertvolle Augenblicke zu sammeln, erfuhr Bastian zum ersten Mal 2007, als sein Vater völlig überraschend im Alter von nur 48 Jahren starb: „Ich konnte mich auch nicht verabschieden – er ist plötzlich im Garten verstorben“, er schluckt kurz, als er das sagt. „Das hat mir die Endlichkeit des Lebens dann doch sehr vor Augen geführt. Das war ein Erweckungserlebnis. Seitdem versuche ich, alles etwas bewusster wahrzunehmen.“ 

Diese Endlichkeit, so sagt er, würde ihm auch Corona vor Augen führen: „Man sieht Menschen, die leiden und schwer krank sind. Dann wird einem selbst auch wieder klarer, dass man nicht ewig lebt.“

Wenn man dankbar ist, ist man empfänglicher für besondere Momente

Und deswegen versucht der Musiker, in möglichst vielen Momenten seines Lebens etwas Positives zu sehen. Das schafft er mit einer besonderen Haltung: „Ich versuche vor allem, dankbar zu sein. Dankbar für das, was man hat, dankbar für das, was man nicht erleiden muss, einfach für den Moment dankbar sein. Wenn man dankbar ist für das, was man schon hat, ist man – glaube ich – auch empfänglich für weitere Sternstunden. Ich weiß nicht, ob das zutrifft, aber für mich funktioniert das auf jeden Fall.“

Im Lockdown hört man seine eigene Stille

Natürlich hat Corona dem Musiker auch einige Sternstunden seines Lebens genommen. Normalerweise hätte er jetzt, zu Karneval, von der Bühne aus in Tausende glückliche und befreite Gesichter schauen können. Er hätte gehört, wie die Massen die Songs seiner Band mitsingen und sich von schwitzenden und ausgelassenen Menschenmengen feiern lassen können. Stattdessen fallen Hunderte Auftritte und damit ein wesentlicher Teil seiner Lebensgrundlage weg.

Trotzdem erkennt Basti, dass es gar nicht schlecht ist, wenn zwischendurch auch mal ein bisschen Ruhe einkehrt: „Jetzt, im Lockdown, ist man irgendwie viel mehr auf sich selbst heruntergebrochen. Normalerweise kann man, wenn man nicht genau weiß wohin, dort hingehen, wo es laut ist. Dann hört man seine eigene Stille nicht mehr. Das geht jetzt nicht mehr so leicht. Jetzt muss man sich mit sich selbst auseinandersetzen.“ 

Durch Entschleunigung Zeit für die wichtigen Dinge finden

Der Sänger glaubt, dass das sogar eine Chance sein kann, um zu erkennen, was einem im Leben wirklich wichtig ist: „Ich glaube schon, dass viele Menschen in dieser Entschleunigung die Zeit gefunden haben, Dinge zu machen, die sie schon immer machen wollten, für die aber vorher einfach die Zeit fehlte.“

Er selbst habe zum Beispiel einen Online-Sprachkurs begonnen, um Niederländisch zu lernen. Denn er sei schon so oft in den Niederlanden im Urlaub gewesen und wolle bei seinem nächsten Besuch zum Beispiel endlich sein Essen in der Landessprache bestellen können. 

Irgendwann spürt man, wie einem die Zeit durch die Finger rinnt

Selbstverständlich fühle es sich im Moment oft so an, als seien die Möglichkeiten geringer als unter normalen Umständen, räumt Bastian ein. Es gäbe Tage, an denen er es mit Sicherheit nicht schaffe, auch nur eine einzige Sternstunde zu sammeln, weil es auch ihm manchmal einfach nur mies ginge. 

 „Aber: ‚Man lebt nur einmal‘ – das ist ja leider nun mal trauriger Fakt“, gibt er zu bedenken. „Und man verdrängt das gerne mal bis zu einem gewissen Alter. Der Alltag ist ja auch oft eine immer wiederkehrende Schleife, in der einem nicht bewusst ist, dass sie irgendwann mal endet. Doch an einem gewissen Punkt wird dann klar, dass einem die Zeit ein bisschen durch die Finger rinnt.“ Bastian findet, es sei das Wichtigste, sich das zuerst einmal bewusst zu machen. Dass es ein Ende gibt. Dass man nicht für immer dahinläuft. Und dass man irgendwann zurückschauen und sich die Frage stellen wird: War das jetzt gut so?

Trübsinnig auf bessere Zeiten warten ist keine Option mehr

Als ich an diesem Montag ins Bett gehe, liege ich noch lange wach. Ich werde dieses Jahr dreißig Jahre alt. Bisher hat es sich für mich tatsächlich genauso angefühlt, wie Basti es beschrieben hat: Mein Leben schien wie eine Schleife, deren Ende ich nicht gesehen und nicht gefühlt habe. 

Dieses Gespräch heute hat etwas verändert. Jetzt gerade höre ich meine eigene Stille. In dieser Stille spüre ich, dass ich dankbar bin. Und so wie Basti es vorausgesagt hat, erkenne ich in dieser Dankbarkeit: Ich habe heute eine Sternstunde gesammelt – trotz Corona, vor dem Laptop, mit einem einfachen Videotelefonat. Eins ist spätestens seit heute klar: Trübsinnig auf bessere Zeiten warten, kommt nicht mehr infrage. Stattdessen werde ich versuchen, jeden Tag zu nutzen, um mir weitere Momente wie diesen zu schaffen. Denn wenn ich irgendwann zurückblicke, will ich sagen können: JA, das war gut so!

 

Fotos: ©Daria Bücheler