Kölsche Musik – Interview mit Georg Hinz (Brigitte)
Mit Liederzetteln für die Freunde vom Niederrhein fing alles an, inzwischen ist Loss mer singeist eine Mitsing-Initiative, die in Kölner Kneipen (und anderswo) den Hit der Session kürt. Mit weiteren beliebten Veranstaltungen wie der Sitzung im Tanzbrunnen und der Party an Karnevalsfreitag (www.lossmersinge.de). mehr als 20 Jahre alt und nicht nur eine Mitsinginitiative. Die Idee, unbekannten Interpreten die gleichen Chancen zu geben wie den Großen des Fastelovends, hat sich durchgesetzt und bewegt inzwischen Zehntausende zum Mitsingen. Die jährlich wiederkehrenden Mitsingabende sind heute ein absolutes Erfolgsprojekt.
Wir sprachen mit Georg Hinz, dem Gründer und Initiator des Projekts, über Gesang und den großen Erfolg der kölschen Musik.
Was ist das Besondere an Köln und seiner Musik, dass jedes Jahr unzählige neue Lieder entstehen?
Eine Musikszene diesen Charakters und dieses Ausmaßes gibt es nirgendwo sonst auf der Welt. Das Besondere an der kölschen Musik ist, dass sie nicht nur die Stadt und das Leben feiert, sondern – zunehmend in den letzten 20 Jahren – ein positives Menschen- und Wertebild entstehen lässt. Es geht in den Liedern um Gemeinschaft, um Solidarität, um Heimat, ums Ankommen, um den guten und friedlichen und humorvollen Umgang miteinander, um Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt. Eigentlich sind es Entwürfe vom guten Menschsein, verpackt in vielseitiger Musik. So sind die kölschen Lieder nicht nur Stimmungslieder, sondern Lieder, die einen berühren und etwas transportieren.
Wolfgang Oelsner hat den Karnevalkommt von „Carne vale! Fleisch, lebe wohl!“und bringt den Charakter des Festes als Freudenfest vor der langen Fastenzeit zum Ausdruck bringt. einmal als das „Fest der Sehnsüchte“ bezeichnet. Man möchte so akzeptiert sein, wie man ist, oder eine intensive Gemeinschaft erleben, eine Heimat empfinden. Und dieses Paradies wird auch in den Liedern entworfen. Sie sind so erfolgreich, weil es immer wieder um Korrespondenzen zu wichtigen Dingen im Leben geht, und besonders um das Carpe diem.
Zum Beispiel „Alle Jläser huh“. Hier wird etwas beschrieben, was uns alle verbindet. Wir alle haben geliebte Menschen verloren und trauern um sie. Das Lied lädt uns ein, an sie zu denken, sie in unsere Freude einzubeziehen, und zeigt uns gleichzeitig, dass wir uns in einer Gemeinschaft mit Menschen befinden, die diese Erfahrung teilen.
Haben wir manchmal nicht was viel Kölle in unseren Liedern?
Außenstehende empfinden kölsche Musik oft als unangenehm selbstherrlich, alles dreht sich nur um die Stadt. Doch Menschen scheinen sich immer Bilder von einem Ort zu basteln, an dem alles gut ist. Ich vergleiche das gerne mit dem Bild vom „himmlischen Jerusalem“ (in der Bibel). Auch in den kölschen Liedern wird das Ideal einer solchen Stadt beschrieben. Das Ideal kann Köln natürlich „in echt“ nicht halten, aber das ist auch nicht wichtig. Es ist, als möchte man sich beim Singen der guten Dinge vergewissern, so wie sie sein müssten, auch wenn es persönlich schwer sein kann, sie jeden Tag umzusetzen. Jerusalem oder Köln – ein idealtypischer Ort, der so was ist wie die Heimat im Herzen. Das versteht man auch anderenorts, dass Köln für etwas stehen kann, was alle Menschen haben. Beim Singen fühlt man das, singt leidenschaftlich „Kölle“ und in der Seele klingt das an, was man sich als Heimat ersehnt.
Mit den Bläck Fööss begann der Aufstieg der kölschen Musik auch über die Stadtgrenzen hinaus. Nach Brings’ „Superjeile Zick“ im Jahr 2001 hat sich die Kölner Musikszene mit hochkarätigen Bands stetig erweitert. Kann es heute eigentlich noch was Neues geben?
Die kölsche Musik stand Gott sei Dank nie unter dem Druck, ständig etwas Neues erfinden zu müssen. Vielleicht geht es eigentlich darum, so was wie die „Grundwahrheiten“ mit anderen Worten und neuen Melodien zu beschreiben. Da die wichtige Botschaften in Musik verpackt sind, die sich von Generation zu Generation verändern, kommen die neuen Varianten immer mit der nächsten Generation, die dann auch ihre neu gewonnenen Werte und Inhalte ergänzen.
In Köln verdrängen neuen Lieder nicht die alten, sondern bereichern und ergänzen unseren Liedschatz. Ein Verfallsdatum scheint es nicht zu geben. Woran liegt das?
(Georg Hinz lacht) An Spotify. Und daran, dass wir uns, auch wenn wir manche Songs jahrelang nicht gehört haben, an die Texte erinnern. Wir waren emotional mit ihnen verbunden. Sie scheinen automatisch – oft mit dem Gefühl – abrufbar, deshalb gibt es also eigentlich kein Verfallsdatum.
Allerdings verschiebt sich der aktuelle Liederkanon kontinuierlich schleichend. Wenn man die Hits zu oft gehört hat, tritt eine Übersättigung ein, und neue Lieder rücken in den Vordergrund. Manche Songs halten über Generationen hinweg ihre starke Wirkung wie „En unserem Veedel“. Und das passiert auch mit „Unsere Stammbaum“ oder „Stääne“.
Liveauftritte sind mittlerweile die Haupteinnahmequelle für Musiker. Für viele junge Bands ist Loss mer singe ein wichtiges Sprungbrett. Das macht euch zu einem Schwergewicht in der Szene. Wie geht ihr damit um?
Das ist schon auch eine Bürde. Es gibt heutzutage Session für Session viel mehr gute Lieder als wir auf der Tour darstellen können. In den letzten 20 Jahren hat sich die Musikszene stark professionalisiert. Viele Musiker haben ihre Leidenschaft zum Beruf gemacht und das trägt zur hohen Qualität der Kölner Musikszene bei. Um die Auswahl zu entscheiden, haben wir bei Loss mer singe seit Langem ein Verfahren mit Testveranstaltungen, bei dem weit mehr als hundert Leute mitwirken. Je mehr, je besser. Und dabei zeigt sich auch: Nicht jeder Song, der live gespielt gut ankommt, funktioniert auch aus der Konserve in der Kneipe.
Jede Session gibt es 350 bis 400 neue Titel. Wir haben viele Bands in Köln, aber nur sehr wenige erfolgreiche Frauenbands. Woran liegt das deiner Meinung nach?
Da gibt es keine einfache Antwort und wahrscheinlich viele Gründe. Einer ist möglicherweise die vielfältig männerdominierte Gesellschaft im Karneval, in der die Frauen ihre Akzeptanz auch erst mal gegen diese „Wand aus Männern“ durchsetzen müssen. Und du musst ja im Karneval erfolgreich sein, um mit dem gängigen professionellen Anspruch zumindest teilweise von kölscher Musik leben zu können. Das ist durch die Nachwirkungen der Coronazeit ja eh schwerer geworden. Ich glaube, wenn in den karnevalstragenden Institutionen mehr Frauen in wichtigen und präsenten Ämtern wären, würden sich mehr Frauen eingeladen fühlen, das kraftraubende Abenteuer mit Risiko des Scheiterns anzugehen. Denn in der „normalen“ Pop- und Schlagerwelt ist das ja weniger ein Thema.
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Das ist Loss mer singe
Seit 2001 zieht die Einsingtour „Loss mer singe“ durch Kneipen in Köln, seit 2011 auch im Kölner Umland oder in rheinischen Enklaven in München, Hamburg und Berlin, um am Ende aus 20 Neuvorstellungen den Hit der Session zu wählen. Jahr für Jahr strömen mehr Jecken in die Kneipen, Sitzungen und Mitsingkonzerte, um gemeinsam zu feiern oder das gemeinsame Singen zu genießen.
Neben der Einsingtour organisiert das ehrenamtliche Team eine Sitzung im Tanzbrunnen, eine Sitzung für Pänz und eine Karnevalsparty, organisiert den Kölschen Musik Bänd Kontest, lädt ein zum Sommerfest oder Weihnachtssingen, zu kölschen Mitsingkonzerten mit Live-Bands oder zum musikalischen Kneipenquiz oder unterstützt Schulen und soziale Projekte mit den Überschüssen und … und … und …
Mehr über die Aktivitäten auf www.lossmersinge.de