Jörg Runge: Das Brauchtum ist der soziale Kitt unserer Gesellschaft! (Vera)

Wenn man seit 16 Jahren im Karneval auf der Bühne steht und der Fastelovend von jetzt auf gleich einfach „abgesagt“ wird, dann fehlen selbst einem Redner mal die Worte. Jörg Runge, bekannt als Dä Tuppes vum Land, ist freier Redner, Kommunikations-Coach, Seminar-Trainer und ausgebildeter Hochzeits- und Trauerredner. 

Für emotionale Ergriffenheit war aber nach der Sessionsabsage gar nicht viel Zeit. Alternativ-Konzepte wurden aus den Schubladen gezaubert und letzten Endes gab es in dieser Session dann doch noch den ein oder anderen Auftritt. Recht spontan wurden die zuerst geleerten Terminkalender wieder gefüllt, Termine verschoben, neu vergeben, umgeplant. Es lief mehr als zunächst befürchtet, obgleich es in Gänze dann wieder nur ein Bruchteil einer regulär stattgefunden Session ist. Auch wenn man sich an vielen Tagen nur für einen einzigen Auftritt das Kostüm anzieht, statt wie normal für fünf bis sieben Auftritte, man genießt einfach alles was geht.

Was waren deine ersten Gedanken als es zum ersten Mal hieß „Die Session ist abgesagt?

Das hat mich schon reizüberflutet. Ich habe die Pressekonferenz zu Hause verfolgt. Und musste danach direkt ins Kostüm steigen und umswitchen. Das war eine Herausforderung, mental damit klar zu kommen. Natürlich wurde erstmal ein Tränchen verdrückt. Aber im November/Dezember haben wir die Vorstellabende gespielt und waren in der Annahme, im Januar wieder auf der Bühne zu sein. Das war schon irgendwie unverhofft. Ich hatte nie damit gerechnet, dass es eine normale Session wird wie bis zuletzt geplant. Aber so ein Zwischending vielleicht. Hätte man von vornherein in Alternativkonzepten geplant, wäre man besser vorbereitet gewesen. 

Pripro 2021

Du hast eine besondere Beziehung zum Dreigestirn, wie kam es dazu und welche Momente waren besonders emotional?

Die drei kamen in der Session 20/21 auf mich zu und baten mich, eine Dreigestirnsrede für sie zu schreiben und sie für die Auftritte zu coachen. Das war eine wirklich große Ehre für mich. Die Jungs sind wunderbar bodenständig und volksnah. Man spürt richtig, dass alle drei tief mit dem Karneval verwurzelt sind. Als ich bei der Pripro 21 dann ihren Auftritt sah, hat mich das schon sehr bewegt. Im Grunde hab ich ja wie jeder Kölner und Karnevalist den Traum „Einmol Prinz zo sin“ und hab’ einfach die Rede so geschrieben, wie ich sie auch für mich selbst geschrieben hätte, wenn mein Traum in Erfüllung gegangen wäre. Dieses Jahr bei der Proklamation saßen die Drei dann hinter mir und haben mir bei meiner Rede zugehört – das war auch schon sehr besonders. 

Was wird dir besonders in Erinnerung bleiben aus zwei Jahren Corona-Session?

Das sind sicherlich zwei Sessionen, über die man auch in 30-40 Jahren noch sprechen wird. Was mir aufgefallen ist, ist, dass es sehr viele Vereine gibt, die den Karneval mit sehr viel Herzblut leben. Kleine Formate, die hoffentlich auch über das Ende der Pandemie Bestand haben werden. Und ich habe für mich deutlich gemerkt, dass ich Fastelovend immer noch mit jeder Faser meines Körpers liebe, wie ein kleiner großer Junge, der sich freut unterwegs zu sein, von einem Saal zum nächsten. Ich wünsche mir, dass die Menschen wirklich mal ganz bewusst erkennen, was wir am Karneval haben. Das ist eine große Brücke zwischenmenschlicher Beziehungen. Der soziale Kitt unserer Gesellschaft. Ein Geschenk vum levven Herrjott. Ich würde mir wünschen, dass wir uns das so bewahren. 

Welche Formate sind in einer normalen Session deine liebsten?

Mädchensitzungen! Und Pfarrsitzungen. Weil Frauen sich immer so viele Gedanken zu ihrem Kostüm machen. Richtig einfallsreiche und sehr liebevolle Basteleien. Mit Glitzer und Blinklichtern und bunten Farben … Während Männer sich `ne Mötz auf `n Kopp setzen und meinen, sie wären verkleidet. 

Warst du dieses Jahr schon auf einer Mädchensitzung? 

Ja klar. Die ZDF-Mädchensitzung im Tanzbrunnen. Openair. Es war richtig schön. Man hat aus der Not eine Tugend gemacht. Die Stimmung war gar nicht so weit weg von normal. Im Sartory ist es natürlich indoor lauter und komprimierter. Aber was das ZDF und das Festkomitee da auf die Beine gestellt haben, das war schon sehr, sehr schön. Und das zeigt auch, wie hartgesotten die Kölnerinnen hier sind, die sich bei Wind und Wetter darauf einlassen, sich dort hinzusetzen. Besonders schön auch, dass man den Damengesellschaften und Tanzgruppen die Karten geschenkt hat, als kleine Hommage an das, was sie alles so leisten im Kölner Karneval.

Was für Formate hast du als NEU kennengelernt? 

Kneipensitzungen sind wieder mehr im Kommen, kleine Formate, wo die Leute wieder bewusster zuhören. Gerne in Verbindung mit einem schönen Essen. Ganz neu sind Open-Air-Sitzungen. Das hab’ ich so noch nicht erlebt. Man wird kreativ, geht einfach auf die Bowlingbahn und kombiniert das Spiel mit Essen und Reden. Und natürlich die Streamformate, die ja auch eine Innovation dargestellt haben, wo man sich bis vor kurzem noch gar nicht vorstellen konnte, dass sowas funktioniert. 

Jetzt gab es viele Formate die virtuell oder hybrid stattfanden. Wie kommt ein Redner auf einmal damit klar, wenn keine Rückmeldung vom Publikum möglich ist?

Ja, das war in der Tat eine große Herausforderung. Mein Programm lebt eigentlich von einer Interaktion mit dem Publikum. Im Stream bekommt man keine Zwischenlacher oder Applausphasen und erst recht keine Antwort auf einen Reim, den es zu vervollständigen gilt. Ich habe meine Rede entsprechend umgeschrieben. Mich komplett auf publikumslose Auftritte eingestellt. Das hat wunderbar funktioniert, auch vor dem dann doch wieder mehr gewordenem Publikum zum Ende der Session. Klappt allerdings nicht bei jedem Format. Da muss man flexibel sein und in etwas belebteren Sälen dann doch noch einen Mitmachteil spontan einbauen.

Optimistisch für 23?

Ja klar, sehr! Das dürfen wir nicht dem Zufall überlassen. Man muss Konzepte erarbeiten, die berücksichtigen, dass das Virus auch im Herbst/ Winter nicht verschwunden sein wird. Wenn’s anders ist, umso besser. Ich habe große Lust wieder in voll besetzen Sälen zu stehen. Die Session 23 ist gebucht, ich freu mich drauf. Es ist alternativlos. Wir müssen Wege finden, dass es stattfindet. Allein schon für das Ehrenamt. Die ganzen Tänzerinnen und Tänzer trainieren das ganz Jahr über, nicht für Geld, sondern für den Applaus in den Sälen. Es gibt viele Menschen in den Vorständen der Gesellschaften, die sich 1:1 mit der Gesellschaft identifizieren, das ist ein Teil von ihnen. Wenn das wegbricht, wird es sehr schwer, das wieder zu reaktivieren. Das ist gefährlich fürs Brauchtum. Das Ehrenamt ist eines der wichtigsten Dinge. Vieles entsteht überhaupt erst durch das Engagement im Ehrenamt. Es geht um sehr viel mehr als ums Feiern.

Fotos: ©Vera Drewke außer Dreigestirn: ©Festkomitee Kölner Karel/Costa Belibasakis